Ein gewachsenes Team hat seine eigene Psychologie. Teams können Dinge vollbringen, die an Magie grenzen – weit mehr als eine zusammengewürfelte Gruppe aus denselben Personen.

Jim Benson formulierte gestern auf kanbandev dazu einige Zusammenhänge, die ich hier in Übersetzung wiedergeben möchte, weil ich finde, dass man es kaum hätte besser erklären können (mit Sicherheit sprachlich einfacher, doch das lasse ich hier in der Übersetzung so stehen, um nahe an Jims Original zu sein).

Ich fand in diesen Ausführungen endlich einmal den Anfang einer Antwort auf die Frage, die ich mir seit Jahren stelle, seit ich zum ersten Mal eine Task-Wand in Extreme Programming gesehen habe: Warum arbeiten Teams so viel effektiver, wenn sie so eine Wand haben als wenn sie keine haben?

Hier also Jims Text:

Flow-Systeme, kombiniert mit kollaborativen agilen Praktiken, sind geeignet, eine Plattform für eine bessere soziale Psychologie zu schaffen. Wenn man Leute einfach nur in Gruppen aufteilt, geht das fast immer mit beschränktem Informationsfluss, verwirrenden Richtlinien oder Einschränkungen der Handlungsfähigkeit einher. Es ist eine Art von „prozeduraler Schuld“, die einen sozialen Zusammenbruch verursacht.

Ein Fokus auf Kaizen für Gruppen verändert dies. Kanban, als ein visueller Steuerungsmechanismus, ist ein wirksamer „Heizkörper für Information“, mit Früh- und mit Spätindikatoren, sowohl für Erfolg, als auch für Probleme. Als ein solcher Informations-Heizkörper, entpersönlicht es die Konversation, belohnt Zusammenarbeit, reduziert Tendenzen für Schuldzuweisungen, fördert das Problemlösen und gibt eine gemeinsame Sprache, um den aktuellen Kontext der Gruppe zu beschreiben.

Psychologisch verringert das Tendenzen zur Übertragung, zum Verschieben vonVerantwortung und zum Finden von Sündenböcken. Darüber hinaus kann das explizite Darstellen von Optionen und die Begrenzung von WIP [work in progress = unfertige Arbeit] zu einer großen Verringerung des Zeigarnik-Effektes führen: Individuen sind gestresst, wenn Arbeit unvollendet oder unterdefiniert gelassen wird. Kanban ermöglicht Teams auch auf einem Höhepunkt ihrer Effektivität (das ist nicht dasselbe wie Produktivität!) zu arbeiten. Ausbrüche von Effektivität, die aus Klarheit stammen (wenn das Team ein wirklich gemeinsames Verständnis über die Art, Zeitpunkte und Ziele der Arbeit hat), sind aus sich heraus angenehm – das bringt eine Dopamin-Reaktion, einfach nur aus dem Wissen, dass das Projekt gut läuft.

Der Akt der Visualisierung an sich, durch ein Wertstrom, erzeugt einen gemeinsam gelebten Rahmen des Geschichtenerzählens, in dem die Aktivitäten der Arbeitsabläufe stattfinden. Dies schafft ein gemeinsames Muster, eine visuelle und verbale Sprache für die Gruppe, um zu diskutieren, was los ist.

Das systematische Verschieben von Tickets durch den Wertstrom gibt dem Gehirn Informationen (durch kinästhetische, taktile und visuelle Rückmeldung), dass sich die Bedingungen verändert haben. Wenn das mit verschiedenen Aufgabentypen kombiniert wird, fordert das die Pattern-Matching-Fähigkeiten und -bedürfnisse des Gehirns heraus. Dies bedeutet, dass Teams sehr empfindsam für die Rate werden, mit der sich die verschiedenen Aufgabentypen durch denWertstrom bewegen. Während sich diese Sensibilisierung erhöht, können Team und Individuen entstehende Muster überraschend früh im Prozess entdecken. Dadurch stoppen sie Probleme, bevor sie teuer werden.

Alle diese Reaktionen gehen zurück auf den Zeigarnik-Effekt, denn wenn etwas fertig ist (die Karte auf „fertig“ bewegt wird), dan ist das eine ausdrückliche Anerkennung, dass die Arbeit abgeschlossen ist und es tritt „Schließung“ auf [engl. closure, da muss ich noch ein besseres Wort im Deutschen finden]. Das Gehirn findet dies angenehm und feiert eine kleine Party. Das mag albern aussehen, aber ohne die ausdrückliche Anerkennung des Abschlusses wertschätzen wir einfach nicht, dass die Arbeit getan ist. Wir werfen sie einfach nur beiseite und eilen zur nächsten Aufgabe. Die Karte auf „fertig“ zu  verschieben, lässt das Gehirn registrieren, dass die Vollendung eingetreten ist.

Das ist für die Team-Moral und für Retrospektiven wichtig. Jetzt ist es wahrscheinlicher, dass sich die Menschen eher an die Details dessen, was bei der Umsetzung passiert ist, erinnern.

Dies alles kratzt nur an der Oberfläche der psychologischen (sowohl der sozialen als auch der persönlichen) Implikationen der Verwendung von visuellen Steuerung im Umfeld der Wissensarbeit.

Zum Zeigarnik-Effekt habe ich allerdings meine eigene Ansicht, die möglicherweise von Jims Ansicht abweicht: Zeigarnik fand heraus, dass unterwegs unterbrochene Arbeit besser behalten wird als in einem Zug erledigte Arbeit. Hat das etwas damit zu tun, ob Arbeit abgeschlossen oder unfertig ist? Auf jeden Fall ist dies eines, was ich mit Kanban erreichen möchte: Ich will etwas, das fertig ist, wirklich vergessen können und meine Gehirnzellen für neue Arbeit benutzen können. Und das relativ schnell und leicht.

Hintergrund-Informationen:

Seite „Bljuma Wulfowna Seigarnik“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 22. Januar 2011, 06:49 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bljuma_Wulfowna_Seigarnik&oldid=84235877 (Abgerufen: 23. Januar 2011, 12:06 UTC)

Bluma Zeigarnik 1927: „Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen“. Psychologische Forschung 9, 1-85. elektronische Fassung