In diesem Blog habe ich viel über Produktentwicklung mit Hilfe von Lean und Kanban gesprochen. Die Ziele-Hierarchie war dabei immer: Zuerst Wert, dann Flow, dann Beseitigung von Verschwendung.

Heute möchte ich über eine andere Art von Flow sprechen: Über den Flow im Menschen, der in der Produktentwicklung arbeitet. Produktentwicklung kann die Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand versetzen. Flow ist ein Zustand, in dem man Raum und Zeit vergisst, weil die eigene Tätigkeit die gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Aufmerksamkeit ist dabei eine Art von psychischer Energie, die durch Feedback, das man bekommt, zu einer „Belohnung in sich selbst“ führt.

Entwickeln fordert die ganze Person

Produktentwicklung fordert uns heraus, unsere gesamten Fähigkeiten einzusetzen. Die einzelnen Aktivitäten führen auf ein klares Ziel hin, das funktionierende Produkt, mit klaren Zwischenzielen, z.B. eine Funktion, die endlich so tut wie sie soll, eine Farbe, die endlich so aussieht wie sie soll, eine Gestaltung des Produktes, die den Benutzer begeistern wird, und so weiter. Gleichzeitig gelten Regeln für jede einzelne Aktivität, die man nicht ohne die richtigen Fähigkeiten einhalten kann. Das Produkt wird sich „weigern“, das zu tun, was man will, setzt man nicht alle Fähigkeiten ein, um es dazu zu bringen. Auch Routinetätigkeiten gehören dazu, die wir jedoch (mittels eines entsprechenden Mind-Sets) in eine Art Spiel transformieren können, das für uns einen Sinn ergibt.

Entwickeln = Einswerden von Aktion und Aufmerksamkeit

Wenn eine Person alle ihre Fähigkeiten einsetzen kann oder muss, um in der Produktentwicklung zu einem Ziel zu gelangen, dann wird diese Person durch die Aktivität völlig aufgesogen. Als Architekt, Entwickler, Designer, Tester usw. vergisst man das Bewusstsein für sich selbst, für den Stuhl, auf dem man sitzt, für die Computermaus, die man in der Hand hält, für die Umgebungsgeräusche, einfach alles. Wichtig wird nur noch die Arbeit an dem aktuellen Teil des Produktes, den man in Händen hält oder auf dem Bildschirm vor sich sieht.

Es ergibt sich insgesamt eine Erfahrung, die sonst von Tänzern, Musikern, Kletterern, Schach- oder Go-Spielern, Börsenhändlern usw. beschrieben wird: das ist Flow. Die Aktivität wird so spontan, fast automatisch ausgeführt, dass Person und Tat nicht mehr getrennt, sondern eins miteinander sind.

Klare Ziele, zeitnahes Feedback

Dieses totale Aufgehen in einer Tätigkeit ist nur dann möglich, wenn das nächste Ziel ganz klar vor Augen ist und wenn uns ständiges Feedback sagt, ob wir diesem Ziel wieder ein Stück näher gekommen sind oder uns von ihm entfernt haben. Dadurch ist es dem Entwickler möglich, in kleinen Schritten immer wieder nachzusteuern und eins mit seiner Tätigkeit zu bleiben, über lange Zeit.

Entwickeln ist ein Beruf, bei dem Flow leicht erreichbar wird, wenn die Umgebungsbedingungen stimmen. Für die Umgebung ist das Management zuständig – es schafft den Garten, in dem die entwickelnden Personen wachsen und gedeihen können. Die Entwickler werden ebenfalls zu Gärtnern, aber für das Produkt. Den Entwicklern klare Ziele zu geben und ihnen das Erlebnis häufigen, qualifizierten Feedbacks zu ermöglichen, ist einer der sichersten und einfachsten Wege, ein erfolgreiches Entwicklungsteam zu formen.

Konzentration auf das, was anliegt

Flow geht nicht ohne Konzentration auf das Wesentliche. Wenn ich entwickle, sollte ich nicht gleichzeitig an das nächste Meeting denken oder an die Deadline, bis zu der ich fertig sein muss (das kann ich immer noch, wenn ich Pause beim Entwickeln mache). Wenn ich entwickle, sollte ich den Kopf nicht voll von Aufgaben haben, sondern nur eine davon sollte gleichzeitig meine Aufmerksamkeit erfordern. Das erleichtert wiederum das Auswerten von Feedback: Ich ändere genau eine Sache am Produkt und schaue, wie es sich dann verhält. Verhält es sich nicht wie gewünscht, weiß ich, dass diese eine Veränderung, die ich gerade gemacht habe, die Ursache war.

Dasselbe gilt für für Konzentration im ganzen Team. Beispiel: Die USA gewannen den Americas Cup 30mal mit ihren Segelbooten – bis plötzlich das Team Neuseeland mit einem ganz neuen Boot die Amerikaner hinter sich ließ, obwohl diese bei der Entwicklung finanziell viel besser ausgestattet gewesen waren. Was war der Grund? Die Neuseeländer hatten während der Entwicklung zwei Boote gebaut. Sie veränderten immer eines davon und ließen es im Test gegen das andere antreten. Das veränderte Boot lieferte Feedback, und das Team konnte sich auf die zuletzt durchgeführte Veränderung am Boot konzentrieren, diese musste „schuld“ sein, denn beide Boote segelten ja im selben Wind und im selben Meer zur selben Zeit.

Das ist Konzentration auf das Flow-Erlebnis. Zusammen mit klaren Zielen und sofortigem Feedback ergibt sich Ordnung im Bewusstsein, negative Entropie sozusagen, ein Zustand, der so erfreut, dass er fast süchtig macht.

Kontrolle ohne Kontrolle

Im Flow entsteht ein Gefühl von Kontrolle über die eigene Situation. Interessanterweise jedoch nicht durch ein Gefühl von Macht, sondern durch ein Gefühl von Sorglosigkeit. Es kommt einfach nicht mehr darauf an, etwas unter Kontrolle zu haben – gerade dadurch entsteht das Gefühl, die Situation im Griff zu haben. Der Produktentwickler hört damit auf, sich ständig zu hinterfragen. Das „Bauerntheater“ im Kopf stoppt einfach: Bin ich gut genug, kriege ich das hin, was wird mein Chef davon denken, was denken die anderen, usw. Fragen dieser Art treten im Flow völlig in den Hintergrund. Es kommt einfach nicht mehr darauf an, sondern man ist eins mit dem Teil des Produkts, den man gerade entwickelt, entwirft, plant, verfolgt, testet, was auch immer.

Seltsam, oder? Gerade wenn Kontrolle aufhört, entsteht die wahre Kontrolle: Das Gefühl, dass die Entropie in der Welt vorübergehend angehalten wird.

Die autotelische Erfahrung

Am Ende wird die Aktivität zu ihrem eigenen Ziel. Selbst wenn man am Anfang aus anderen Gründen zu entwickeln begonnen hat (z.B. wegen des Interesses für die Technik oder wegen der Notwendigkeit, sein Geld zu verdienen), wird diese Aktivität für den, der entwickelt, zu einer intrinsischen Belohnung. Es braucht im Moment des Flows keine extrinsische Maßnahme, um Entwickler zu motivieren. Entwickeln wird autotelisch, dieses Wort bringt zwei griechische Begriffe zusammen: auto=selbst, telos=Ziel. Die Ausführung der Tätigkeit selbst ist bereits das Ziel.

Für mich ist Coaching auch solch eine autotelische Sache. Indem ich meinen Klienten helfe, die Bedingungen für Flow zu schaffen (siehe das alles oben!), erlebe ich selbst Flow. Wenn die Produktentwicklung meines Klienten plötzlich flüssiger läuft, mehr Wert erzeugt und die beteiligten Menschen dabei noch entspannter sind als zuvor, dann ist das für mich jedesmal so faszinierend, dass ich es ohne müde zu werden, fortsetzen kann.